Montag, 27. Juli 2015

Kamillentee, irgendwer?

In den Jahren nach dem Abi habe ich an Wochenenden und in den Semesterferien in einem Altenpflegeheim gejobbt. Die Schwestern haben alle geraucht wie die Schlote. Ich damals bei jeder sich bietenden Gelegenheit auch gerne, aber nicht während der Arbeit, das fand ich eklig. Zum Einen fing die Schicht barbarisch früh an, und so weit war ich dann doch noch nicht, mir morgens um sechs die erste Fluppe anzuzünden. Zum Zweiten kam ich mir komisch vor, inmitten all der medizinischen Geräte, der Spritzen und der teilweise fies hustenden Alten. Aber es dauerte nicht lange, da war mir klar, warum die Schwestern darauf keine Rücksicht mehr nahmen. Nur wer rauchte, hatte echte Pausen. Denn es gab kein anderes Mittel, sich innerhalb der erbärmlich kurzen und erbärmlich dünn gesäten Pausen nach all der Knochenarbeit wirklich zu entspannen. Jeder, der raucht, kennt das: man nimmt im dicksten Stress einen Zug und wird sofort ruhiger. Außerdem kamen die Alten sofort angelaufen, wenn sich eine Schwester im Schwesternzimmer niederließ. Eine vermisste ihre rosa Strickjacke, ein anderer wollte am Nachmittag gerne einen Einlauf, eine dritte juckte es am Rücken, und viele wollten einfach nur ein Schwätzchen halten oder nach ihrem seit Jahrzehnten toten Ehemann fragen. All diese Anliegen richteten sie aber nie an eine Schwester, die gerade rauchte. Beim Kaffee trinken, Brötchen essen oder mit toten Augen vor-und-zurückwippen durfte man stören, beim Rauchen niemals. Und so suchte ich Strickjacken, hielt Schwätzchen, notierte und verabreichte Einläufe und versprach, Grüße an tote Ehepartner auszurichten, wenn ich sie sähe. Das war völlig in Ordnung, ich war erstens die Dienstjüngste und zweitens nur am Wochenende und in den Ferien da. (Die unter den Schwestern beliebteste Zigarettenmarke war übrigens HB. Es waren raue Zeiten.)

So wie den Schwestern damals mit den Zigaretten ging es mir in den letzten Wochen mit meinem abendlichen Wein. Kaum hatte ich abgestillt, war er da. So gut wie alle Eltern kleiner und kleinster Kinder werden das bestätigen können: zwar gibt es eine Reihe von Schlüsselreizen, die einem deutlich sagen "die Kinder haben Sendepause, jetzt, meine Liebe, in diesen ein-zwei Stunden, bis du ins Bett fällst, bist DU mal dran". Die Tatort-Melodie gehört bestimmt für manche dazu, oder ein schnell-schnell Legofrei geräumtes Wohnzimmer. Aber nichts, zumindest nichts, wovon ich wüsste, wirkt so schnell und zuverlässig wie ein Glas Wein. Oder Gin Tonic, oder was weiß ich was andere Leute so trinken, aber jedenfalls: Alkohol. Alkohol ist erwachsen und Freizeit und Feierabend und Entspannung und Anregung und all das, woran es den Tag über trotz aller fanatischen Kinderliebe gefehlt hat. Hätte mir das jemand wegnehmen wollen, hätte ich mit Panik und heftiger Aggression reagiert. Meins! Das bisschen ist jetzt mal meins! Das beschlagene Glas, die Eiswürfel und ihr leises Klirren, das schöne Korkengeräusch, das gehört mir.
Und niemand hat es mir wegnehmen wollen. Weshalb ich es jetzt eben selbst tue. Denn ich fand in den letzten Tagen, es wurde ein bisschen viel. Ich bekomme schon von wenig Wein leicht üble Kater, manchmal sogar Migräne. Ich kann auch nicht schlafen. Das heißt, ich kann sowieso schon nicht schlafen, mit zahnendem Baby noch weniger, und die paar Stunden, die dann noch bleiben, radieren zwei Glas Weißwein (oder mehr, Schockschwerenot) zuverlässig aus. Das würde eigentlich schon fast reichen, um es zu lassen, zumindest bis die Zähne da sind. Dann habe ich festgestellt, dass ich seit der Wiedereinführung des Feierabendweins noch viel häufiger auf die Uhr gucke. Angefangen um zehn Uhr früh habe ich jeden Tag bestimmt zwanzig Mal die Stunden gezählt, bis die Kinder im Bett sind und die Eiswürfel im Glas. Und ich fand es schade, denn eigentlich habe ich doch keine Kinder bekommen, um sie jeden Tag aufs Neue schleunigst aus dem Weg zu wünschen? Klar war das alles anstrengend und oft überfordernd und frustrierend, aber... ich fand den Tunnelblick auf die Cocktailstunde gruselig. Und darum habe ich seit letztem Mittwoch das mit dem Feierabendwein gelassen. Ich habe beschlossen, das nicht als Selbstbestrafung oder Erziehungsmaßnahme zu betrachten, sondern als Erholungspäuschen. Und es tut mir ehrlich gut, von Anfang an. Ich habe ein paar Lieblingsgetränke aus der Schwangerschaft und Stillzeit reaktiviert (kalter Karo-Kaffee mit Milch und Eiswürfeln! Klirrt auch sehr schön!), ich schlafe besser, ich bin entspannter und fröhlicher und geduldiger mit den Kindern, und ich stelle überrascht fest, dass ich plötzlich mehr Feierabend habe. Zwar fehlt mir der erste Schluck Wein schon, nachdem die Muckelchen selig schlafend in ihren Betten liegen. Aber der Rest des Abends dauert ohne Alkohol einfach länger: die Zeit vergeht nicht so fix, ich muss mir neue, anders entspannende Tätigkeiten überlegen, und wenn ich weiß, dass mich kein Weißwein um den Schlaf bringt, traue ich mich auch wieder, länger aufzubleiben.
Und ich mache das jetzt erst mal so, mal sehen, wie lange.

Ich war noch nie in Harrys Bar in Venedig (nicht gerade für Selbstdisziplin beim Essen und Trinken berühmt), aber ich habe das Kochbuch schon ein paar mal von vorne bis hinten durchgelesen. Jedes Jahr im Winter feiern sie mit allen Stammgästen ein großes Fest, fressen und saufen die Vorräte leer und hängen am nächsten Tag ein Schild in die Tür: Geschlossen für Kamillentee. Dann bleibt die Bude für ein paar Wochen dicht, und danach eröffnen sie neu - mit frischen Vorräten, rosigen Wangen, ein paar Pfündchen weniger und neuer Lust an gutem Wein und noch besserem Essen. So in etwa denke ich mir das.

3 Kommentare:

  1. Herrlich.
    Herrlich ehrlich und mir aus der Seele sprechend.

    Juli.

    AntwortenLöschen
  2. Hihi das Gute ist du wirst nicht zum Alkoholiker hast es früh genug abgestellt sonst hätte ich mir echt Sorgen gemacht ;)

    AntwortenLöschen
  3. Liebe Flora, nicht zum Thema passend aber ich muss es trotzdem mal schreiben: es ist einfach unglaublich wie die Zeit vergeht... Dein Blog begleitet mich jetzt schon seit Jahren, ich habe oft das Gefühl Dich zu kennen (....was zeigt wie wunderbar Du schreibst, denn aus entfernungstechnischen Gründen konnte ich leider nie an einem Stammtisch teilnehmen....). Ich kann mich noch an so vieles genau erinnern was Du geschrieben hast: der Ärger über zerberstende Ampulle (welcher MistKERL - ja das MUSS ein Frauen- und Kinderhasser gewesen sein der das erfunden hat - packt eine Flüssigkeit in ein Glasfläschchen zum zerbrechen anstatt einen ordentlichen Verschluss dran zu packen?)....Hochzeit....den Wettbewerb "die beste Ausrede für Alkoholverzicht" habe ich leider nicht gewonnen aber naja, es sei Dir verziehen :).... Der Weg nach Schwangerschaft und wieder zurück....und dann das unglaubliche Wunder von zwei Kindern an der Hand! Vieles davon habe ich auch auf meinem Weg erlebt.... die tiefe Trauer nach einer Fehlgeburt, Hoffen, Freude und inzwischen auch das unglaubliche Glück von zwei tollen Kindern und die unglaubliche Erschöpfung und Müdigkeit die neben der grossen Freude eben auch viel Raum einnimmt.... Und manchmal der Wunsch nach ein bisschen Ruhe und Schlaf.... Und bevor diese Kommentar nun noch viel länger wird: Danke! Danke für Deinen tollen Blog, Deinen Schreibstil, das Teilen Deines Lebens, Deiner Gedanken... Ich schaue täglich hier rein und hoffe auf neue Beiträge die mir oft aus der Seele sprechen, mich zum lachen oder nachdenken bringen und mich hoffen lassen, dass Du diesen Blog noch sehr lange weiterführst (will ja schliesslich wissen wie Du das dann mit den Enkelkindern hälst.....). Ich wünsche Dir und Deiner Familie nur das Beste! Mit herzlichen Grüssen, S.

    AntwortenLöschen