Mittwoch, 8. April 2015

Frei!

Eins meiner Mädchen hatte mal einen Freund, der war niedlich, aber seltsam. Wir lernten ihn kennen, als die beiden aus Berlin zu Besuch waren und wir bei uns im gerade frisch bezogenen Haus eine Party gefeiert haben. Irgendwann im Lauf des Abends stand er vor mir, strahlte mich an, machte ein Foto nach dem anderen von mir und sagte ungefähr sieben Mal mit Inbrunst: "Flora, du bist so frei!"
Ungefähr 24 Stunden lang haben wir uns alle gefragt, wie er das wohl gemeint hatte. Wollte er sagen, ich wäre so ungehemmt? Bin ich nämlich nicht. Oder, ich wäre eine von denen, die völlig natürlich und unbeeindruckt bleiben, wenn jemand sie fotografiert oder filmt? Bin ich schon gar nicht, ich bin unfähig, auf Fotos anders als komplett bescheuert zu gucken. (Sogar mein leichtes Schielen, dass man sonst kaum sieht, ist auf einmal doppelt so schlimm. Außerdem wächst mir gerne ein zusätzliches Kinn.) Meinte er, ich wäre sowas wie ein freier Geist? Sehr schmeichelhaft, aber woher will er das wissen, nachdem ich ihm bisher nur zwei gekühlte Getränke gereicht und ihn freundlich begrüßt habe?
Die Lösung kam mir einen Tag später. Seine Freundin hatte ihm erzählt, ich wäre eine Freie. Freie ist in unserem Job der Ausdruck für Freelancer. Und Jobwelten aller Art waren ihm damals eher fremd, also hat er es eben so verstanden.

Gut. Wo war ich? Ach so, Freiheit. Michel ist frei! Nicht im Sinne von Freelancer, sondern frei. Gestern um fünf vor Zwölf kamen wir auf dem gerammelt vollen Krankenhausflur zur Klumpfußsprechstunde an, hatten trotz des Andrangs aber gerade mal Zeit, einen Automaten-Kaffee in uns reinzustürzen, bevor wir aufgerufen wurden. Alles ist gut. Wir wurden sogar gelobt: ein mittig so dünnes, eingeschnürtes Füßchen wäre der Beweis, dass die Eltern wirklich alles richtig gemacht haben. Nur eine kleine Stelle am rechten dicken Zeh müssen wir ein bisschen pflegen und beobachten, aber mit täglich zwei dünnen Schichten Bepanthen sollte sie bald verschwunden sein. Ab jetzt muss Michel die Schiene also nur noch 12 bis 14 statt 23 Stunden am Tag tragen. Ich werde versuchen, mehr in Richtung 14 zu gehen - nichts wäre jetzt fieser, als dass der Fuß sich doch wieder zurückbiegt und wir noch mal auf 23 Stunden hoch oder sogar noch mal gipsen müssten. Es ist auch nicht wichtig, ob er die 14 Stunden an einem Stück oder häppchenweise hinter sich bringt. Michel muss sich jetzt also nicht unbedingt einen zweistündigen Mittagsschlaf angewöhnen, und auch wenn er im November in die Kita kommt, müssen die Damen dort nicht mit komplizierten Schühchen und Schiene herumfummeln. So lange er früh schlafen geht, legen wir ihm den Apparat um 19 Uhr an, und morgens um neun nehmen wir ihm das Ganze wieder ab.

Bisher ist er noch weniger begeistert als gedacht, was aber auch daran liegen könnte, dass er dick erkältet ist - samt Ohren und Augen. Seit heute morgen ist auch noch Fieber dazugekommen. Arme kleine Wurst - aber nur, weil Mama und Papa sich diesen Tag rot und glitzernd im Kalender angestrichen haben, musst du ja nicht unbedingt mit Konfetti werfen.



1 Kommentar:

  1. Herzlichen Glückwunsch!
    Ihr solltet Euch mit Konfetti bewerfen, weil Ihr so wunderbar durchgehalten habt. Damit habt Ihr Jakob ein riesengroßes Geschenk gemacht!

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