Sonntag, 27. Februar 2011

Häschenbordüre von Innen

In unserem Gesellschaftskunde-Buch in der Schule gab es immer diese Fotos, auf denen "eine deutsche Familie" (Also selbstverständlich Vater, Mutter, zwei Kinder, von jeder Sorte eins) vor einem Tisch fotografiert war, auf dem sich das stapelte, was sie in einem Jahr essen. Abgesehen davon, dass mich ein großer Teil dieses Essens nicht besonders anlachte (Haferflocken? Kondensmilch? Würstchen aus der Dose? Eingemachte Erdbeeren?), ist die Vorstellung in irgend einem Winkel meines Fusselhirns klebengeblieben und meldet sich bis heute dann und wann zu Wort. Zum Beispiel dann, wenn ich nach langer Zeit mal wieder an einem lustigen Abend sechs Zigaretten geraucht habe und es mir deshalb am nächsten Tag dreckig geht. Dann erscheint vor meinem müden inneren Auge unweigerlich ein Bild, auf dem man ein deutsches Fusselhirn vor allen Zigaretten sieht, die es in seinem Leben bisher geraucht hat. Oder wenn ich ich mich wieder mal aus Spaß und reiner, unverfälschter Gier so vollgefressen habe, dass ich mich kaum noch rühren kann, und mir einen sich biegenden Tisch vorstelle, auf dem das Essen steht, das ich innerhalb einer Woche so zu mir nehme. Es ist erschütternd. Dieser Tage wird die Vorstellung noch verschärft dadurch, dass sich auf meinem imaginären Tisch nicht nur Fluppen und eine warme Mahlzeit, sondern sämtliche Fluppen, unseriösen Getränke, ungesundes Essen und Medikamente einschließlich Vollnarkosen zu einem ekligen Haufen türmen. Das ist wirklich wiederlich, und wenn ich mir das so vorstelle, dann wundere ich mich, dass es tatsächlich noch Tage gibt, an denen ich morgens aufstehe und mich (zumindest jetzt, nach Enantone) eigentlich ganz frisch und wohl fühle. Ziemlich häufig fühle ich mich aber anders: müde, angeschlagen, träge, krank und wie unverdient dauerverkatert. Wäre ich eine österreichische Kaiserin, würde ich für ein paar Monate nach Madeira fahren. Bin ich aber nicht. Und deshalb träume ich in letzter Zeit immer häufiger davon, mal wieder eine Woche zu fasten. Das wäre nicht das erste Mal, sondern das fünfte. Zwei mal ging es gut, ich hatte eine tolle Woche, in der ich endlich mal wieder klar denken konnte, monatelang vier-fünf Kilo abgenommen hatte und mich hinterher genau so gefühlt habe, wie es das Fastenbuch versprochen hatte: ich war wieder sauber. Keine Kopfschmerzen mehr, viel seltener Migräne, keine Rückenschmerzen, keine Wehwehchen, und das Essen schmeckte auf einmal fabelhaft. Ein Äpfelchen oder eine geriebene Möhre waren schon eine echte Mahlzeit, und ich hatte überhaupt keine Lust mehr auf hellen Toast, Mayo, Fritten und... uaaaah... langweilt ihr euch auch so wie ich? Ja, aus der Perspektive von heute klingt dieses Gesundheitsstreberleben natürlich schlimm, aber ich schwöre, es war toll! Irgendwann ging das dann auch mit den Fritten wieder los, aber selbst das war toll, denn auf einmal waren das die leckersten Fritten, die ich je gegessen hatte, und nach ca. fünfzehn davon war es genug, ich hab die halb volle Schale stehen lassen, bin pfeifend davonspaziert und hab nicht zurückgeschaut. (Jaja, natürlich hab ich sie vorher in den Müll geworfen, liebe Blogpolizei.) Ich weiß noch, beim ersten Mal fasten hatte ich mir eine Woche freigenommen, es war im März, und plötzlich lagen überall zwanzig Zentimeter Schnee, es wurde klirrekalt und ganz sonnig, und eine Woche lang bin ich auf wackligen Fastenknien durch diese Wunderwelt spaziert und habe mich kurz vor religiös gefühlt.

Gut, zwei mal war es auch schrecklich. Ich habe die fünf Fastentage nicht durchgehalten, und vor dem Aufgeben war ich tagelang fast wahnsinnig vor Schwäche und Kopfschmerzen, und keins der Wundermittel aus dem Fastenbuch wollte helfen. Aber da habe ich auch gearbeitet, und es war wie ein schlechter Scherz: alle zwei Minuten hat einer meiner Kollegen mir Kuchen unter die Nase gehalten, oder eine Mail ploppte auf, dass wir uns heute kurz vor Feierabend bitte zu einer Runde Prosecco und Snacks irgendwo versammeln sollen, um irgend einen Mist zu feiern. Und wenn ich gerade mal nichts essen sollte, dann sollte ich mich mit Aufgaben beschäftigen, die alle mit Schokolade, Keksen oder Würstchen zu tun hatten. Aber diese beiden Male waren mir eine Lehre, und diesmal würde ich nicht arbeiten gehen, sondern würde mir eine Woche im Kalender freischaufeln und nur machen, wozu ich imstande bin und wozu ich Lust habe.

Ich träume davon, dass meine Hosen nicht mehr zwicken, dass die Hormonpickelchen verschwinden, dass ich mich nicht mehr so vergiftet fühle, dass ich meine Liebe zu Vollkornbrot und Äpfeln wiederentdecke, dass ich wieder mit weniger als einem Kilo Essen glücklich bin, und dass ich nicht mehr zwanghaft in jede Schale M&Ms greifen muss, die irgendwer in der Agentur aufstellt. Ich freu mich drauf, wieder zu merken, wann ich Hunger habe und worauf.

Gut. Dieses Wochenende ist so gut wie vorbei und war viel zu anstrengend: ich hab den Schreibtisch knallvoll und muss bis heute Abend auf zwei Jobs abliefern. Außerdem ist Dienstag eine Präsentation, freinehmen wäre nicht gegangen. Und nächstes Wochenende bin ich mit L. in Franken unterwegs, mein innerer Tisch biegt sich gerade unter Knödeln und Schweinsbraten. Ich weiß nicht, ob es jemals ein Franke geschafft hat, aber ich könnte in Franken nicht fasten. Aber das Wochenende danach? Das zweite im März? Ich würde bis Mittwoch arbeiten, Mittwoch Entlastungstag mit ein bisschen Rohkost, ohne Kaffee, Tee und Fleisch, und Donnerstag würde es losgehen. Und wenn ich mir dann die erste Gonal in den Bauch spritze, dann weiß ich: es ist ein sauberer Bauch. Das Kinderzimmer ist tapeziert, liebevoll eingerichtet und blitzeblank.

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