Freitag, 19. Februar 2010

Pro und Prontra

Wir sind heute da hingefahren und haben uns das Haus von Außen angesehen. Wir haben gesehen, wie die Farbe von den Fenstern abblättert, waren ein paar Minuten ganz still, um zu hören, ob es laut ist (ist es nicht), wir sind durch den großen Park gelaufen, der auf der anderen Straßenseite liegt, wir haben mit Nachbarn gesprochen, ob das Leben da schön ist (ist es), und wieder mal hab ich das Problem, mir einfach zu viel vorstellen zu können. Ich kann mir vor meinem inneren Auge genau bis ins kleinste David-Lynch-Film-hafte Detail vorstellen, wie mir da die Decke auf den Kopf fällt, ich kann mir aber genau so gut vorstellen, wie entspannt und frei und großartig das Leben da wäre.

Also gut. Zeit für eine Liste (die ich mir zwar vielleicht bis Sonntag aufheben sollte, wenn wir das Haus auch von Innen gesehen haben werden, aber die jetzt trotzdem sein muss).

Dinge, die mir an der Innenstadt vielleicht fehlen würden.
1. Aus dem Fenster gucken, egal aus welchem, und sofort wissen, dass ich in der Stadt lebe.
2. Kioske, in denen es Biozigaretten, kaltes Jever, frische Brötchen und Miracoli zu kaufen gibt.
3. Überall zu Fuß hinkönnen, oder notfalls mit dem Fahrrad.
4. Meine Freunde wohnen nah genug bei mir, um auch im Vollrausch nach Hause zu finden.
5. Sehr viele Dinge sind nah genug, um mal eben kurz.
6. Überall so viele Irre, dass ich als eine mehr nicht so doll auffalle.
7. Essen gehen wollen und sich nicht entscheiden können, zu welchem der drei Vietnamesen in Laufentfernung wir gehen.
8. Dönergeruch bei Westwind, Fischgeruch bei Ostwind, Teergeruch bei Nordwind und Schiffströten bei Südwind.
9. Auf jedem Weg gibt es was zu Gucken, kein Weg ist nur dazu da, mich irgendwohin zu bringen.
10. Das Gefühl, nichts zu verpassen.
11. Die Spießer sind eindeutig in der Minderheit und trauen sich zwar ab und zu, aufzumucken, aber sind doch eingeschüchtert dadurch, dass sie wissen, notfalls würden wir sie einfach weghusten.

Diese Liste kann ich bestimmt bei anderer Gelegenheit noch fortsetzen. Aber es ist jetzt schon klar, wohin die Reise geht: Möglichkeiten sind wichtiger als Wirklichkeiten. Denn die Wirklichkeit sieht so aus, dass Spontanbesuche bei Freunden ziemlich selten sind. Genau so wie Kinobesuche in letzter Zeit. Es geht also mehr um das Gefühl, das alles theoretisch jederzeit zu können. Und es geht vor allem um dieses Gefühl, in der Stadt zu leben. Ich habe gerade mal nachgeguckt, ich wäre mit der UBahn 20 Minuten unterwegs zu einer Freundin, 15 zu einer anderen, 15 zu meinem Lieblingsschwimmbad. Ich müsste ein paar Dinge besser planen. Vielleicht bräuchte ich auch ein Auto, Gott behüte. (Mein letztes Auto ist vor inzwischen über zehn Jahren draufgegangen. Ich war, wie eigentlich immer, nicht Schuld. Aber ich habe ein sensationell mieses Karma, wenns ums Autofahren geht. Ich bin immer gerne gefahren und ziemlich zackig, jedenfalls besser, als es mir die meisten Leute zutrauen würden, die mich kennen. Aber irgendwie hat das Schicksal mir ständig stockbesoffene, blinde oder sehr, sehr zerstreute Fahrer über den Weg geschickt.)

Gut. Weiter mit dem zweiten Teil der Liste, die dafür sprechen, den Plan noch nicht sofort über Bord zu werfen: die Dinge, die ich am Vorstadtleben toll fände bzw. am Stadtleben überhaupt nicht vermissen würde.
1. Der Park gegenüber. Ihr müsst euch das so vorstellen, dass ich die Haustür öffnen würde, dann müsste Lili für 15 Sekunden an die Leine, bis wir über die Straße wären, und dann hätten wir ein kleines, hübsches, englisches Parkparadies für uns. Ich könnte da laufen gehen (oder sitzen gehen oder liegen gehen), Lili könnte die Hundebekanntschaften vertiefen, die sie heute geschlossen hat, es wäre großartig. (Andererseits: geht man in der Vorstadt in den Park? Da sind doch sonst nur Kriegerdenkmäler? Aber das gehört auf eine dritte Liste.)
2. Der Platz im Haus. L. und ich träumen beide ab und zu den frustrierenden Traum von perfekter Ordnung und "puren" Räumen. Das ist Mumpitz, weil es mit uns nichts zu tun hat. Wir haben beide Tonnen von Kram, und zwar nicht, weil wir Messies sind, sondern weil wir einfach ein Leben geführt haben, in dem Bücher, Briefe, Küchenkram und Andenken eine Rolle spielen. Ich will nichts davon wegwerfen, im Gegenteil, ich habe vor, auch in Zukunft Bücher und Kram zu kaufen. Wir hätten so viel Platz, dass wir, wenn wir es schlau anstellen, tatsächlich mit Büchern und Kram leben könnten, ohne das Gefühl zu haben, die Bücher dulden uns notgedrungen in ihrer Wohnung.
3. Nochmal der Platz. Ich könnte ein eigenes Zimmer haben. In dem Zimmer gäbe es eine riesige, gemütliche Schlafcouch, und es wäre damit gleichzeitig das Gästezimmer. Ich hätte Bücherregale, einen alten Schreibtisch, auf dem ich mein kleines weißes Macbook aufstellen würde, einen eigenen kleinen Fernseher, wenn L. Fußball guckt, und in der Ecke hätte Lili ein Extrakörbchen.
4. Nochmal der Platz. Wir hätten einen Weinkeller. Ich hätte eine Sauna. Wenn ich jetzt in den Keller will, muss ich zumindest ein paar Accessoires so drapieren, dass es so aussieht, als wäre ich nicht gerade im Schlafanzug unterwegs. (Taschen wirken Wunder.) Wir hätten einen Holzkeller, in dem das Holz für unseren Kamin liegen würde. Unseren Kamin! Stopp, genug von ihm, er verdient einen eigenen Post. Wir hätten einen Vorratskeller. Jetzt habe ich einen Vorratsschrank. Ich hab ihn sehr gerne, aber wenn ich die Tür öffne, muss ich das sehr schnell tun, um rechtzeitig meine Arme so auszubreiten, dass keine Lawine aus Ölflaschen und Konservendosen auf mich draufknallt und mich und all meine Küchenträume unter sich begräbt. Ich würde in den Keller steigen, pfeifend vermutlich, und da würden sie alle auf mich warten: meine indischen Gewürze, exotischen Nudelsorten, verschiedenen Risottoreis-Sorten, mehlige und festkochende Kartoffeln, Winteräpfel, Buchweizenmehl, Senfgurken, Baked Beans und der ganze Kram, der jetzt in meinem Vorratsschrank die Lawinengefahr steigert.
5. Der Kamin. Ich kann glaube ich gar nicht beschreiben, was ein Kamin für mich bedeutet. Es ist ungefähr so, als hätten andere Leute eine Giraffe im Wohnzimmer, die stündlich ein Junges auf die Welt bringt. Oder einen Wasserfall. Etwas, wo man hingucken muss und glücklich ist. Ich schwöre, obwohl ich schon ein sehr glücklicher Mensch bin, mit Kamin wäre ich fast nervtötend glücklich. Freunde wären genervt, weil ich sie in die Wohnung bitten würde und sagen würde "der Kamin, der Kamin!" und dann den ganzen Abend lang nicht mehr mit ihnen sprechen würde, sondern nur noch Holz nachlegen und mit stierem Blick in die Glut gucken. So gern mag ich Kamine.
6. Ein eigenes Haus. Ich gehöre zu den Leuten, die auch mit 36 noch nicht glauben, jemals erwachsen zu werden. In letzter Zeit habe ich aber den dringenden Wunsch, dass es endlich passiert. Ich habe nämlich das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen, wenn ich es nicht tue. Ein Haus wäre ungefähr so erwachsen wie ein Aktienportfolio. Ich fänds gut.
7. Zu zweit mit L. sein. Das sind wir zwar hier auch, aber dadurch, dass wir so mittendrin sind, wird eine Wohnung schnell zur Durchgangsstation. Irgendwo muss man ja schlafen und essen und seine Zahnbürste stehen haben, aber da draußen ist immer noch ein Kino, ein Supermarkt oder ein Vietnamese, zu dem man auch noch dringend sollte. Wir könnten zusammen ein bisschen ruhig werden. Ein bisschen ruhiger jedenfalls. Ausruhen, bis es uns stinkt und wir wieder in die Stadt ziehen.
8. Ich könnte eine Sauna haben. Ich könnte die Mädchen zu Saunaabenden einladen. Endlich hätte mein anderthalb Meter hoher Stapel Handtücher einen Sinn.
9. Um die Ecke ist ein See und ein Moor. Man stelle sich vor, wie herrlich es wäre, an einem stürmischen Oktoberabend L. über die Schulter zuzurufen "Wenn du mich suchst, ich bin im Moor!"
10. Ich würde mir mehr vornehmen. Allein schon aus Angst, da draußen zu versauern, würde ich mich verabreden, und jede Verabredung wäre etwas Besonderes und schön schon allein wegen der dicken Taxirechnung.
11. Weihnachten in einem Haus. Ich würde den kompletten Adventskranzbestand im Ort aufkaufen.
12 Ein Garten. Man könnte im Sommer im Nachthemd und barfuß in den Garten gehen und mit dem Hund zusammen ein paar Erdbeeren fürs Frühstück ernten.
13. Wir hätten einen Wintergarten.
14. Eigentlich bin ich gerne allein. Dieses Bedürfnis ist in letzter Zeit ein bisschen zu kurz gekommen. Ich könnte endlich wieder allein sein, jedenfalls immer dann, wenn ich das sein will.
15. Wir müssten nie wieder der Hässlette im Treppenhaus begegnen.
16. Ich könnte mir wieder ein Klavier kaufen. Ich könnte mir sogar einen Flügel kaufen. Dann würde ich warten, bis es schüttet und stürmt und L. nach Hause kommt, und würde im schwarzen Anzug auf dem Hocker sitzen und irgendeine Fuge von Bach spielen wie der irre Igor. Das wäre großartig!
Scheiße. Wir haben ein Problem.

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