Sonntag, 14. Juni 2009

Das Fenster zum Hof

Gerade habe ich mir wieder eine Spritze verpasst. Und während ich so dastehe, mein Kleid zwischen den Zähnen, den Bauch zur bewährten Wurst gepresst und die Spritze im Anschlag, sehe ich, wie auf einem Balkon gegenüber eine vollkommen entgeisterte alte Frau zu mir rüber guckt, dann entrüstet das Gesicht verzieht, in ihre Wohnung verschwindet, die Balkontür hinter sich zuknallt und die Gardine zureißt. Hätte sie noch Holzfensterläden gehabt, hätte sie die sicher auch zugehauen. Was hat die wohl gedacht, dass ich hier an einem Sonntagabend in meinem Blümchenkleid stehe und mir den Tatort nachher mit einem Schuss Heroin versüßen will? (Kommt überhaupt ein Tatort oder nur so ein blöder Polizeiruf? Und wenn Tatort, ist es ein guter oder etwa einer aus Ludwigshafen? Niemand soll sagen, In Vitro würde die üblichen Alltagsfragen außer Kraft setzen.) Denkt die jetzt, die Drogenszene ist in ihrem Viertel angekommen? Oder hat sie auf die Entfernung die Spritze gar nicht sehen können, sondern mein nackter weißer Bauch war schon schlimm genug? Soo dick ist der ja wohl nicht! (Ich hab leider grundsätzlich das Problem, mich immer gegen jeden noch so bekloppten Vorwurf verteidigen zu müssen. Ich bin kurz davor, ein Schild zu malen und ihr hinzuhalten, auf dem so was steht wie „Habe Endometriose – deshalb verstopfte Eileiter – trotzdem sehnlicher Kinderwunsch – daher In Vitro und damit verbundene Spritzen! Bin CLEAN!“ Aber nach dem Gesichtsausdruck eben ist fraglich, ob sie so schnell wieder auf ihren Balkon kommt.)

Die Laune ist übrigens wieder besser. Vielleicht nur eins dieser Umstellungsprobleme. Oder einfach ein schlechter Tag. Das muss ja auch mal drin sein. Gerade eben lag ich so da mit meiner Zeitung und kam ins Überlegen und dachte mir, eigentlich ist das gar nicht sooo unwahrscheinlich, wie du immer tust, dass du in einem Jahr ein Kind hast. Oder wenigstens einen sehr dicken Bauch. Wie dann wohl das Wochenende wäre? Wären wir solche Eltern, die am Wochenende in den Zoo gehen oder in ein Hallenbad? Hätten wir im Auto immer einen Fresskorb dabei? Würde ich von vorne geschälte Gurkenstücke und Kabanossi und Butterkekse durchreichen, wie meine Mutter das gemacht hat? Hätten wir ein Ins-Bett-Bring-Ritual? Ich denke daran, wie früher die Wochenenden für meine Eltern waren. Um sieben wurde die Nacht beendet durch das Geräusch von einem Playmobil- und einem Lego-Eimer, die nacheinander umgeschüttet wurden. Kurze Zeit später die erste Heulattacke meines Bruders, der aber auch genau dieses eine Playmo-Teil will. Dann Umzug ins Wohnzimmer. Die ersten Takte der Titelmelodie vom Räuber Hotzenplotz dröhnen in erschütternder Lautstärke aus den Boxen, weil einer von uns wieder mal den Plattenteller-Knopf mit dem Lautstärkeregler verwechselt hat. Nun kriegt mein Bruder Hunger, und ich beschließe, ihm schnell eine Kleinigkeit auf meinem echt funktionierenden Puppenherd zuzubereiten. Minuten später beißende Rauchschwaden, Flüche, wieder Tränen. Dann Stille. Meine Eltern sind gerade wieder eingeschlafen, als ich (verkleidet mit Mamas weißem Spitzen-Morgenrock) mit geschlossenen Augen ins Schlafzimmer komme, mich zum Bett durchtaste und meine Eltern frage: „Dürfte ich auch noch eure Tochter sein, wenn ich blind wäre?“ Dahinter glücklich kichernd mein Bruder.

Also, ich wäre so weit.

Hat da drüben gerade eine Gardine gewackelt? Schnell, wo ist mein Edding und ein großes Blatt Papier?

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